Nicht bös gemeint – Corona und der soziale Bereich

Der Sozialbereich wird zwar nicht erst seit Covid-19 bei der gesellschaftlichen Verteilung von Mitteln und Anerkennung zu wenig bedacht, die vorhandenen Probleme werden durch die Maßnahmen gegen die Pandemie nur offensichtlicher.

Beginnen wir mit einem Beispiel. Ort: eine Wohngemeinschaft für Menschen mit psychischen Erkrankungen in Wien; Zeitraum: Anfang April 2020; betroffene Personen: die vierzehn Bewohner_innen der WG, ein Team aus zehn Betreuer_innen, Reinigungspersonal und Leitungspersonen der Einrichtung. Anlassfall: ein Bewohner hat erhöhte Temperatur. Das wird bei einer Fahrt ins Spital nach einer psychischen Krise festgestellt. Procedere: Die Person wird getestet und gilt fortan als Verdachtsfall. Da es im Spital zu keiner Aufnahme kommt, wird sie in die WG zurückgeschickt und muss sich dort in Quarantäne begeben. Die anderen Bewohner_innen werden darauf hingewiesen, dass sie sich dem Bewohner nur mit einer FFP2 Maske nähern dürfen. Für die Bewohner_innen gibt es diese Masken allerdings (noch) nicht, nur den Mitarbeiter_innen steht jeweils eine zur Verfügung, die wiederzuverwenden ist, weil ein solcher Mangel herrscht. Der Bewohner wird darüber informiert, dass er sich in Isolation zu begeben hat, d.h., sein Zimmer bis zu einem negativen Testergebnis nicht verlassen darf. Die Wohngemeinschaft bekommt die Information, dass es bis zum Testergebnis drei bis fünf Tage dauern wird.

Die betroffene Person hält die Isolation nicht lange aus, bzw. fällt es ihr generell schwer, die Situation adäquat einzuschätzen. Bald schon verlässt sie ihr Zimmer und setzt sich zu den anderen. Die Betreuer_innen stehen vor der Aufgabe, fortwährend zu versuchen, die Person davon zu überzeugen, dass sie sich in Isolation begeben muss. Da natürlich kein Zwang angewendet werden kann und die einzige Möglichkeit gutes Zureden ist, bleiben diese Überzeugungsversuche weitestgehend erfolglos. Sämtliche Personen in der Wohngemeinschaft sind also gefährdet. 

Zumindest gelingt es, die betroffene Person davon abzuhalten, auf die Straße zu gehen. Die WG ist eine offene Einrichtung, es wäre eine unzulässige freiheitsbeschränkende Maßnahme, die Türen zu verschließen. Dass die Person die WG nicht verlässt, kann daher nicht hundertprozentig garantiert werden. Täte sie es, hätte das zur Konsequenz, den Kreis der gefährdeten Personen sofort immens zu erweitern.

Letzten Endes kommt das Ergebnis nicht drei bis fünf, sondern zehn Tage nach der Testung. Es war reines Glück, dass die Person negativ auf das Virus getestet wurde. Bei einem positiven Testergebnis hätte sich vermutlich das ganze Betreuungssystem angesteckt. Für diesen worst case gab es von Seiten der Institutionen keinen konkreten Krisenplan, es musste und muss nach wie vor improvisiert werden, vor allem jedoch gehofft, dass bestimmte überfordernde Situationen gar nicht erst eintreten. 

Wäre die Testung innerhalb von Stunden ausgewertet worden, hätte die betroffene Person im Falle einer Infektion direkt auf eine Covid-19-Station verlegt werden können. Mit einer desorganisierten Testungspraxis und einem undurchsichtigen Ablauf der Auswertungen wurde hingegen in Kauf genommen, mindestens 25 Personen über einen Zeitraum von zehn Tagen massiv zu gefährden und einer akuten Stresssituation auszusetzen.

Leerstelle der Verantwortlichkeit

Das verheerende an diesem Beispiel ist die zur Schau gestellte Vorsatzlosigkeit, mit der staatliche und gesellschaftliche Stellen und Institutionen die Notsituation erzeugen. Es kann ja niemand etwas dafür, wenn in einem gesellschaftlichen Notstand wie der Covid-19 Pandemie das Krisenmanagement nicht sofort allen Bereichen gerecht werden und zu Hilfe kommen kann. Das Bezeichnende aber ist, welche Bereiche es sind, die, so scheint es, stets „vergessen“ werden. Ebenso wie eine Vielzahl anderer Bereiche bei den Rettungsplänen der Regierung schlicht nicht mitberücksichtigt werden (man denke an den Kultursektor), herrscht gegenüber den besonders prekären Bereichen des Gesundheitswesens eine sonderbare Amnesie. Etwas zu „vergessen” kann man jemandem natürlich weniger gut vorwerfen, als jemanden gezielt zu ignorieren – aber man sollte. Denn die Nachlässigkeit, mit der der soziale Bereich auch schon vor Corona bedacht wurde, sprich: gekürzte Mittel, prekäre Stellen, Einstampfen von Ansprechpartner_innen, während andere, wie die Polizei, zu schlanken Behörden mit militärischer Bewaffnung zurechtgestutzt werden, ist keine Lappalie. Und die Unaufrichtigkeit politischer Stellen schützt uns als Sozialarbeiter_innen genauso wenig wie unsere Klient_innen vor Schaden. Dieser ist natürlich aus politischer Sicht immer begrenzt, wenn er nur jene trifft, die ohnehin wenig Möglichkeiten haben, sich vor ihm zu schützen und gegen ihn zu wehren. Vielleicht sollte der Pflegebereich auch millionenschwere Lobbies auf die Beine stellen, um Privilegien für sich an anderen Gesellschaftsbereichen vorbei zu erreichen. Vielleicht sollte aber auch eine Frage von gesellschaftlicher Ressourcenverteilung keine von Lobbypower und Vitamin B sein, sondern davon, wo Ressourcen für die Produktions- und die Reproduktionsarbeit gebraucht werden – und der Pflegesektor ist eines der Kernstücke des reproduktiven Sektors. Hier ist dem Staat nicht erst seit türkis-grün eine systematische Fahrlässigkeit und Ignoranz vorzuwerfen, die sich nur zu gerne hinter dem Ideologem eines neoliberal-schlanken Staats versteckt, der sich aus der Gesellschaft zurückzieht und nur dort, wo diese sich selbst finanzieren kann, eine sich ausweitende Handlungskompetenz hinterlässt.

Chaos und Improvisation: Prekäres Arbeiten ohne FFP2

Beispiele wie das obige sind leider keine Einzelfälle, sondern verweisen auf Probleme, die sich seit eh und je durch den Pflege- und Sozialbereich ziehen. Doch durch die COVID-19 Krise treten sie klarer zu Tage und haben sich noch verschärft: es herrscht extremer Ressourcenmangel.

Während Einweghandschuhe gewaschen, Mund-Nasenschutz doppelt verwendet und Dienstpläne so umstrukturiert werden mussten, dass im besten Fall nicht alle Mitarbeiter_innen zur gleichen Zeit ausfallen, standen in allen möglichen Einrichtungen des sozialen Bereichs bange Fragen im Raum: „Was passiert, wenn wir in unserer Einrichtung einen Coronafall haben?“, „Wer betreut dann die betroffene Person und was passiert mit den Anderen aus der Wohngruppe?“ Und freilich musste jede Einrichtung für sich diese Fragen beantworten, für Vernetzung und Austausch blieb keine Zeit – schließlich gab es von Seiten der politisch Verantwortlichen keine klar kommunizierte Strategie. Es nimmt wohl jeder in Österreich lebende Mensch an, was selbstverständlich sein sollte: wer krank ist, bleibt zu Hause und kuriert sich aus. Was aber, wenn ein_e Klient_in an Corona erkrankt, sollen dann die Mitarbeiter_innen mit den Klient_innen gemeinsam in Quarantäne? Undenkbar.

Auch die alltägliche Pflege konnte so nicht mehr adäquat durchgeführt werden. War doch die ersten Wochen noch unklar, wann die nächste Lieferung an Desinfektionsmittel in Österreich einlangt – begleitet von dem Wissen, dass der Sozialbereich nicht der Erste sein würde, der mit der lang ersehnten Lieferung versorgt wird. Das Arbeiten im Sozialbereich wird häufig als christliche Nächstenliebe missverstanden. Dabei wird u. A. nicht beachtet, dass dort professionelle und systemerhaltende Arbeit geleistet wird. Ein damit zusammenhängender, häufig ignorierter Aspekt ist die starke Vergeschlechtlichung des sozialen Bereichs: Die in der Arbeit geforderten Kompetenzen und Fähigkeiten – Fürsorge, Pflege, Empathie und Aufopferungsbereitschaft – entsprechen stark der patriarchalen Konstruktion von „Weiblichkeit“. Diese soziale Konstruktion von Geschlecht führt zu einer impliziten Vorselektion der Arbeitenden und schlägt sich auch in der Statistik nieder: rund 80% der Arbeitenden im sozialen Bereich identifizieren sich in Wien als weiblich [1], womit die Hauptstadt knapp unter dem Landesdurchschnitt liegt. Aber bei schlechter oder gar keiner Bezahlung Mehrarbeit zu leisten war schon immer eine der klassischen Anforderungen des Kapitalismus an Frauen. Für stark belastende Tätigkeiten wird von öffentlicher Stelle kaum Kompensation oder Burn-Out-Prophylaxe angeboten. Dazu zählt auch die niedrige Entlohnung, die den Gender Pay Gap von 19,6%, wie er auf individueller Ebene in Österreich herrscht [2], auf allgemeingesellschaftlicher Ebene wiederholt: Weiblich konnotierte Tätigkeiten werden in der Regel deutlich schlechter bezahlt als männlich konnotierte. Betrachtet wird die Arbeit dann auch eher als eine Art nettes Ehrenamt und nicht als das, was sie ist: ein Beruf, nach langjährigem Studium oder Ausbildung. Das fast schon parodistische „Dankeschön“ im Fernsehen finanziert da hier niemandem eine Schutzmaske oder die Miete für den nächsten Monat. 

Krank und nutzlos: Am Rande der Gesellschaft, mitten in der Pandemie

Die Menschen, die in sozialen Betreuungseinrichtungen leben, leiden häufig an chronischen oder permanenten Erkrankungen oder Behinderungen, in vielen Fällen ist ein (Wieder-)Einstieg ins Arbeitsleben nie oder nur eingeschränkt möglich. Die Stigmatisierung, die mit einem Herausfallen aus der Gruppe der sogenannten „Leistungsträger_innen” unumgänglich verbunden bleibt – auch wenn wir uns im „zivilisierten“ Westen natürlich nicht mehr garstiger Naziparolen oder dem Bild vom „nutzlosen Esser” bedienen – wirkt sich auf vielfältige Weise auf den Möglichkeitsrahmen dieser Menschen aus.

Dazu kommen die strukturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte: Die massiven Einsparungen im Rahmen neoliberaler Austeritätspolitiken haben den Gesundheitssektor besonders betroffen, und auch hier vor allem jene Teile, die der Wertschöpfung am wenigsten einträglich sind. Während es also zum Beispiel einem Krankenhaus noch leicht fällt, sich im Angesicht der Einsparungen zum wirtschaftlichen Betrieb umzuwandeln, der seinen Erfolg nicht mehr an Heilungsquoten, sondern am Finanzbericht vor dem Aufsichtsrat nachweist, fällt eine solche Umstellung aus naheliegenden Gründen im Bereich der Pflege schwer.

Die dabei „Vergessenen“ sind natürlich die Klient_innen. Ältere und Menschen mit Behinderung betreffend ist das, was wir hier beobachten, schlichtweg Sozialdarwinismus – nicht nur in Österreich. In Frankreich wurden alte Menschen mit einem positiven Testergebnis wieder nach Hause geschickt, während in Schweden die laschen Sicherheits- und Schutzvorkehrungen mehrere Altenheime in akute Ansteckungshotspots verwandelten. Und in Österreich sind es die Menschen mit Behinderung. Diese scheinbar lokalen Fälle finden sich überall im „Westen“ wieder, eingebettet in jeweils spezifische kulturelle oder politische Hintergründe. In ihrem Ablauf, den Vorbedingungen und den schlussendlich Leidtragenden sind sie aber immer ähnlich bis gleich. Aus kapitalistischer Perspektive ist das nur folgerichtig: 

Was bringt es denn dem Staat und der Wirtschaft, in Personen zu investieren, die vermutlich nicht allzu bald oder nie wieder in ihrem Leben einer Lohnarbeit nachgehen werden? Warum soll ein Krankenhausbett für eine Person mit Behinderung oder einer psychischen Erkrankung freigehalten werden, wenn es doch Personengruppen gibt, die der Wirtschaft einträglicher sind? Wenn wir uns die Zahlen für Wien mal genauer anschauen, wird schnell klar, dass da etwas nicht stimmt. In Wien gibt es 14.000 Kund_innen beim Fonds Soziales Wien [3], aber es gibt seit Anfang der COVID-19 Krise nur 20 Betten für Menschen mit Behinderung(en), die positiv auf das Virus getestet wurden, und 20 Betten für Verdachtsfälle. Nicht zu vergessen ist hier auch, dass Personen mit chronischer Erkrankung oder Behinderung zur sogenannten „Risikogruppe“ gehören.

Genau hier zeigt sich aber wieder einmal die Unmenschlichkeit kapitalistischer Logik, die bestehen bleibt, egal, wie vermeintlich sozial sich der kapitalistische Staat und seine Gesellschaft auch gebärden. Ähnliche Szenarien zeigen sich auch in anderen prekären Lohnarbeiten, die wir in diesem Artikel nicht anschneiden konnten: Die rassistische Arbeitsverteilung im europäischen Raum, die eine Ausbeutung von 24h-Individual- Pflegekräften oder Saisonarbeiter_innen zur Folge hat, ist nicht erst mit COVID-19 aufgetaucht. Die Arbeitsbedingungen haben sich durch die Krise jedoch zunehmend verschlimmert. Was sich überall wiederholt, ist Prekarität und eine Stimmlosigkeit, wenn es darum geht, den eigenen Missstand anzuklagen. Selbst wenn Spitzenpolitiker_innen Applaus für all jene, die während Corona weitergearbeitet haben, verordneten, fiel auf, dass unter anderem Sozialarbeiter_innen in der Liste häufig fehlten. Was bleibt ist das alte Lied der Vergessenen und Unsichtbaren.

Quellenverzeichnis und Fußnoten

[1] Statistik Austria. Pflegedienstleistungsstatistik vom 13.12.2019. bit.ly/3erLig4. Zuletzt aufgerufen am 19.06.2020.

[2] Eurostat. Geschlechtsspezifisches Verdienstgefälle vom 24.02.2020. bit.ly/2zLwJFl. Zuletzt aufgerufen am 19.06.2020.

[3] Fond Soziales Wien. Zahlen, Daten, Fakten 2018, S. 5. bit.ly/3fyY0tC. Zuletzt aufgerufen am 19.06.2020.