Editorial: „Naturgewalten“

endlich. die neue gezeit.
mal wieder.

Wir von der GEWI sind jedes Mal wieder erstaunt, wie viel Zeit es in Anspruch nimmt von der Idee zur fertigen Ausgabe.
Deswegen sind wir umso stolzer, diese jetzt hier verdinglicht vor uns zu haben.

»Naturgewalten«

zur Schreckensgeschichte moderner Herrschaftsverhältnisse

Auch moderne Herrschaftsverhältnisse sind hochgradig widervernünftig. Sie umfassen und begünstigen ebenso unfassbares wie unnötiges menschliches Leid – vor allem durch Mangel und Gewalt. Dennoch wird permanent versucht, diesen Verhältnissen einen ›natürlichen‹, allenfalls universalen und überhistorischen ›Sinn‹ anzudichten. Dabei geht es vor allem um variierende Komplexe aus Religion und Sexismus sowie Rassismus, Antisemitismus und völkischem Nationalismus. Das Grundmuster derselben ist zumeist autoritär und sozialdarwinistisch. Der entsprechenden Gewalt geht dabei immer die imaginäre Naturalisierung der prospektiven Opfer voraus: Als ›Ungeziefer‹, ›Parasiten‹ und so weiter. »Die Ideologie ist keine Hülle mehr, sondern das drohende Antlitz der Welt. Nicht nur kraft ihrer Verflechtung mit Propaganda, sondern der eigenen Gestalt nach geht sie in Terror über.« (Adorno 1954: 263) Solche zutiefst menschenfeindliche Gegenaufklärung mythologisiert und naturalisiert – rechtfertigt – zugleich moderne Herrschaftsverhältnisse; damit entsprechendes Leid und Gewalt – und geriert sich dabei bevorzugt selbst als wissenschaftliche Aufklärung (vgl. Adorno / Horkheimer 1947, Busch u.a. 2016, Mayer / Weidinger 2016: 60-63, Stögner 2014).

Diese Tendenzen bestehen jedoch in einem komplexen Konflikt mit herrschaftskritischer Aufklärung. Durchaus auch in Personalunion. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Charles Darwin, mit Herbert Spencer wesentlicher Theoretiker des Sozialdarwinismus. Dessen zentrale Theorie war zugleich aufklärerisch (weil religionskritisch) und gegenaufklärerisch (weil herrschaftsaffirmativ qua Naturalisierung). Im Sozialdarwinismus wird der durch moderne Herrschaftsverhältnisse induzierte Konkurrenzkampf um angeblich ›natürlich‹ knappe Ressourcen und relative Herrschaft auf die Tier- und Pflanzenwelt übertragen – und dann von dort zurückübertragen auf die Gesellschaft. Damit wird der Hobbes’sche Alptraum eines Kampfes Aller gegen Alle zum ›natürlichen Gesetz‹ der Menschheitsgeschichte verklärt. Diese Setzung wurde auch durch Thomas Malthus inspiriert, der dem bis heute virulenten Mythos der imaginären ›Überbevölkerung‹ angesichts ›knapper Ressourcen‹ erste wissenschaftliche Weihen verliehen hat. So auch Gobineau, Hitler, Sarazin, Strache und so fort (vgl. Stapelfeld 2010: 134):
»Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt. Es ist Hobbes’ bellum omnium contra omnes, und es erinnert an Hegel in der ›Phänomenologie‹, wo die bürgerliche Gesellschaft als ›geistreiches Tierreich‹, während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert.« (MEW 30: 249)

Die sozialdarwinistische Vorstellung der ›Natürlichkeit‹ des Kampfes oder gar Krieges Aller gegen Alle wurde schließlich in Verbindung mit eugenischen, völkisch-nationalistischen sowie (damit) antisemitischen Vorstellungen im Nationalsozialismus zum bisher äußersten Terror getrieben. Zur totalen Gewalt gegen alle angeblichen ›Untermenschen‹ und vor allem die darüber hinaus ›Überwertigen‹ des angeblich weltbeherrschenden und zersetzenden ›jüdischen Prinzips‹.

Dies wurde und wird durch moderne Herrschaftsverhältnisse begünstigt, jedoch nicht erzwungen. Diese sind hochgradig verselbstständigt und zunehmend abstrakt, sind entsprechend schwer zu begreifen und bleiben (damit) gegenüber den Einzelnen real übermächtig. Sie erscheinen diesen oft verzerrt bis verkehrt – als unveränderbare ›Naturgewalten‹, werden ihnen – uns – zur ›zweiten Natur‹. »Universal sind Ahnung und Angst, Naturbeherrschung webe durch ihren Fortschritt immer mehr mit an dem Unheil, vor dem sie behüten wollte, an jener zweiten Natur, zu der die Gesellschaft gewuchert ist.« (Adorno 1986: 73f) So können moderne Herrschaftsverhältnisse zunächst als sich selbst mystifizierende und instrumentell-rationale Verselbständigung der inneren und äußeren Naturbeherrschung verstanden werden. Also zeit/räumlich variierender, institutionalisierter und subjektivierter in/direkter Zwang. Autoritarismus, abgesichert durch Mythologie, Belohnung und Bestrafung. Libidnös gebunden, gesichert durch Gewalt und deren Androhung. Dies verfestigt sich durch Real/angst in mehr oder weniger unbewusste Denk-, Fühl- und Handlungsschemata. Zunächst (natur-) religiös und zunehmend patriarchal, feudal und schließlich – besonders gewalttätig – (kolonial) nationalstaatlich und kapitalistisch.

Instrumentell-rationales funktionieren, (politische) Gewalt und Besitz werden dabei tendenziell ›maskulinisiert‹. Im untergeordneten Gegensatz dazu wird (vermeintliche) Schwäche und (erotische) Sinnlichkeit naturalisierend ›femininisiert‹ – und als solche domestiziert, abgewertet, verfemt. (Unbewusst) beneidet und darum oftmals gehasst. Galanterie und Verachtung. ›Die Frau‹ soll grundsätzlich passiv sein und wird im Extrem durch Gewalt zum Objekt degradiert. Zur ihr immer noch zugeordneten ›unproduktiven‹, jedoch real lebensnotwendigen Reproduktion kommt vermehrt prekäre Lohnarbeit hinzu. Der kapitalistische Verwertungszwang, der fetischisierte Wert, gilt dagegen als ›produktiv‹ und wird maskulinistisch konnotiert (Adorno u.a. 1973, Adorno / Horkheimer 1947, Bennent 1985, Pohl 2004, Scholz 2011).

Mit der extrem gewaltsamen Durchkapitalisierung und Durchstaatlichung der Welt wird Herrschaft darüber hinaus zunehmend subjektlos und abstrakt, also für die Einzelnen kaum durchschaubar und (auch dadurch) übermächtig. Die Welt wird politisch und ökonomisch hierarchisch durchkonkurrenziert. Auf Grundlage des jeweiligen Sondereigentums müssen nun alle Kapitaleinheiten mit billigeren Ressourcen und Arbeitskräften mehr verkaufen als die Konkurrenz. Andernfalls gehen sie bankrott, sind vom ›sozialen Tod‹ bedroht. Die durch den konkurrenziellen Verwertungszwang gesetzte (technologische) Steigerung der Produktivkräfte macht die Träger*innen der Ware Arbeitskraft krank bis überflüssig und lässt ihnen kaum mehr Zeit und Energie für Muße und Vernünftiges (vgl. Adorno 2003, Elbe u.a. 2012, MEW 23ff, Schatz 2004). Dagegen könnte die Überwindung moderner Herrschaft objektiv Luxus für alle bedeuten. Leider reagieren die entsprechenden Subjekte oft reaktionär bis regressiv auf ihre Misere – veranstalten konformistische Revolten: suchen, erfinden und verfolgen angebliche Schuldige. Personalisieren globale Krisenprozesse und Stigmatisieren die prospektiven – ›fremden‹, oft jüdischen – Opfer (vgl. Grigat 2016: VIIIff). Sie pflegen so »die Verherrlichung einer konkretistisch verklärten, organischen, authentischen, schicksalhaften und harmonischen Gemeinschaft, die gegen eine chaotisch-abstrakte, entfremdete, zersetzende, künstliche, unmoralische, materialistische, widersprüchliche und letztlich mit ‚den Juden‘ assoziierte [›westlich-moderne‹] Gesellschaftlichkeit in Anschlag gebracht wird.« (ebd. XII)

So wird mit hierarchisiertem Konkurrenzkampf und infolge (psychischer) Gewalt ein (kollektiver) Narzissmus kultiviert, der zugleich permanent gekränkt wird: Das großteils nur imaginär ›selbstbestimmte‹ bis ›großartige‹ Kollektiv/subjekt changiert zwischen verleugneter Ohnmacht und Leidenserfahrung sowie dem vermeintlich gegensätzlichen Wunsch nach Allmacht sowie ›Einheit‹ und ›Reinheit‹ (vgl. Heim 1992). Das sucht es nicht selten durch (affektive) Identifizierung mit Herrschaft und extreme Gewalt zu erreichen: mit mächtigen und vermeintlich harmonischen Kollektiven und Autoritäten (Staat, Nation, Militär, Religion, Partei, Ethnie etc.). (vgl. Busch u.a. 2016, Lohl 2010, Pohl 2010).

Wo Kooperation besteht, dient diese also primär der (vermeintlichen) Abwehr von und dem Kampf gegen Andere – in einer Gesellschaft der diffusen Angst – vor unbegriffenen und unberechenbaren Bedrohungen, besonders in den notwendig ausbrechenden Krisenzeiten. Jedoch auch der Realangst vor der alltäglichen psychischen bis hin zur akzidentell ausagierten, überall kultivierten und zum Teil hochtechnologisierten, regressiven bis reaktionären Gewalt. Realangst vor dem Versagen in der Konkurrenz, davor, für die herrschenden Verhältnisse überflüssig zu werden.

Dies führt oft zu emotionaler Verhärtung, zu Indifferenz gegenüber menschlichem Leid. Zu Verdrängung und Verleugnung von Erfahrung und Geschichte, zu einer regelrechten Panzerung des – dann strukturell ›männlichen‹ – Subjekts. Dieses ist tendenziell sadomasochistisch, konformistisch und autoritär. Potentiale individueller Freiheit werden vielfach ausgetrieben und wo noch vorhanden kaum wahrgenommen. Es erhält dennoch nicht selten eine zwanghaft ›freundliche‹ Erscheinung. Soziale Beziehungen vermag es sich im Extrem nur noch instrumentell sowie in Form psychischer und physischer Gewalt vorzustellen (Adorno u.a. 1973, Körner 2008, Pohl 2004, Theweleit 1986).

So entwickelt diese Subjektform schon durch ihre Konstituierung starke Ressentiments. Insbesondere einen irrationalen Hass auf alle, die sich (vermeintlich) gönnen, was es selbst nicht zulassen darf und will: Nicht-Arbeit, Atheismus, (abweichende) ›feminine‹ Sexualität, Hingabe und Sinnlichkeit… Kurzum: was sich real oder vermeintlich den Zumutungen moderner Herrschaftsverhältnisse widersetzt. »Die Gründe für die Ausbildung und Verhärtung von Ressentiments sind also im hassenden Subjekt zu suchen, in seinen verdrängten Wünschen [und Ängsten], unerfüllten Sehnsüchten, uneingestandenen Verletzungen und Kränkungen. Verkürzt gesagt: Es ist das, was man selbst nicht haben kann und nicht einmal wünschen darf, was dem Anderen zugeschrieben und an diesem gehasst wird.« (Mayer / Weidinger 2016: 58, vgl. auch Adorno u.a. 1973, Busch u.a. 2016, Pohl 2010, Radonic 2004, Stögner 2014).

Mit der vorliegenden Zeitschrift möchten auch wir einen Beitrag zur Kritik moderner Herrschaftsverhältnisse leisten, also zur Voraussetzung einer befreiten Gesellschaft, in der man »ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno 2003: 116). Eine freie Assoziation freier Individuen, in der ohne Geld, Tausch- und Arbeitszwang, ohne Sondereigentum an Produktionsmitteln bedürfnisorientiert produziert wird. Für den objektiv möglichen Luxus für alle, ohne Not und Mühsal.

Literatur:

  • Adorno, Theodor W. u.a. (1973): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Adorno, Theodor W. (1954): Beitrag zur Ideologienlehre. In: ders (Hg.): GS, Soziologische Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Adorno, Theodor W. (1986): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Adorno, Theodor W. (2003): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max (1947). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam: Querido.
  • Bennent, Heidemarie (1985): Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur. Frankfurt/New York: Campus.
  • Busch, Charlotte (Hg. u.a.) (2016): Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus. Wiesbaden: Springer.
  • Elbe, Ingo (Hg. u.a.) (2012): Anonyme Herrschaft. Zur Struktur moderner Machtverhältnisse. Münster: Westfälisches Dampfboot.
  • Grigat, Stephan (2016): Kritik des Antisemitismus als Gesellschaftskritik. Judenfeindschaft, antikapitalistisches Ressentiment und Israelhass. Ein Vorwort. In: Busch, Charlotte (Hg. u.a.): Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus. Wiesbaden: Springer, S. VII-XIV
  • Heim, Robert (1992): Fremdenhaß und Reinheit – die Aktualität einer Illusion. Sozialpsychologische und psychoanalytische Überlegungen. Psyche, 46, 8-1992, S. 710-729.
  • Imbusch, Peter (Hg.) (2012): Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzeptionen. 2. erw. Aufl., Wiesbaden: Springer.
  • Körner, Jürgen (2008): Der ressentimentgeladene Gewalttäter. Psyche, 62, 9-10-2008, S. 905-928.
  • Lohl, Jan (2010): Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus. Eine sozialpsychologische Studie zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial.
  • MEW 23, Marx, Karl (1867): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 1. Band. Berlin: Karl Dietz 2008.
  • MEW 24, Marx, Karl (1886) Das Kapital. Der Zirkulationsprozeß des Kapitals. 2. Band. Karl Dietz 2008.
  • MEW 25, Marx, Karl (1894): Das Kapital. 3. Band. Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion. Berlin: Karl Dietz 2008.
  • MEW 30, Marx, Karl / Engels, Friedrich (1864): Briefe. Januar 1860 – September 1864. Berlin: Karl Dietz 1974.
  • Mayer, Stefanie / Weidinger, Bernhard (2016): Pädagogik gegen Rechts: ein Kampf gegen Windmühlen? Gesellschaftliche Beschränkungen politischer Bildungs- und Präventionsarbeit. In: Bechter, Nico (Hg. u.a.): Rechtsextremismus. Band 2: Prävention und politische Bildung. Wien: Mandelbaum, S. 57-75.
  • Pohl, Rolf (2004): Feindbild Frau. Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen. Hannover: Offizin.
  • Pohl, Rolf (2010): Der antisemitische Wahn. Aktuelle Ansätze zur Psychoanalyse einer sozialen Pathologie. In: Follert, Guido (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis. Wiesbaden: VS, S. 41-68.
  • Radonic, Ljiljana (2004): Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus. Frankfurt am Main: Peter Lang.
  • Salzborn, Samuel (2016): Weltanschauung und Leidenschaft. Überlegungen zu einer integrativen Theorie des Antisemitismus. In: Busch, Charlotte (Hg. u.a.): Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus. Wiesbaden: Springer, S. 13-217.
  • Schatz, Holger (2004): Arbeit als Herrschaft. Die Krise des Leistungsprinzips und seine neoliberale Rekonstruktion. Münster: Unrast.
  • Scholz, Roswitha (2011): Das Geschlecht des Kapitalismus: Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Kapitals. 2. erw. Aufl., Bad Honef: Horlemann.
  • Stapelfeldt, Gerhard (2010): Neoliberalismus – Autoritarismus – strukturelle Gewalt. Aufsätze und Vorträge zur Kritik der ökonomischen Rationalität. Hamburg: Kovač.
  • Stögner, Karin (2014): Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen. Baden Baden: Nomos.
  • Theweleit, Klaus (1986): Männerphantasien. Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Band 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Frankfurt am Main: Stroemfeld / Roter Stern.