Die Aktualität des verdinglichten Bewusstseins

Naturalisierungstendenzen innerhalb des gegenwärtigen Mediendiskurses um Migration in Deutschland

Von der Verdinglichung der Arbeit zur Verdinglichung des Denkens

„Denn es gehört zu dem unheilvollen Bewußtseins- und Unbewußtseinszustand, daß man sein So-Sein […] fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes hält und nicht für ein Gewordenes. Ich nannte den Begriff des verdinglichten Bewußtseins. Das ist aber vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt. Würde dieser Zwangsmechanismus einmal durchbrochen, wäre – so dächte ich – doch einiges gewonnen.“
Theodor W. Adorno 1971, S.99

Sprache kann verräterisch sein. Mit Bezug auf das Thema Naturalisierung sozialer Verhältnisse lässt bereits der derzeit so häufige Gebrauch von Worten wie Flüchtlingswelle oder Flüchtlingsstrom tief blicken. [1] Bei den gegenwärtigen Migrationsbewegungen handelt es sich jedoch nicht um unkontrollierbare Naturgewalten, sondern um soziale, menschengemachte und damit veränderbare Prozesse. Dies kann verdeutlicht werden, wenn man sich analytisch mit dem Phänomen des verdinglichten Bewusstseins und den damit einhergehenden Naturalisierungstendenzen innerhalb des Mediendiskurses um Migration befasst. Beispielhaft wird anhand von Fragmenten aktueller Medienberichterstattung aufgezeigt, in welchen Konstellationen ein verdinglichtes Bewusstsein von nationaler Kollektivität, sowie von Geschlecht im Kontext kulturalistischer Rassismen wirkmächtig wird. Zunächst wird jedoch kurz das Zustandekommen des oben zitierten Bewusstseins, welches „[…] gegen alles Geworden-Sein […] sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt“ (Adorno 1971, S.99), hergeleitet.

Legt man diesbezüglich Marx zugrunde, ist die Ursache im Fetischcharakter der Warenwelt zu suchen. In einer vom Warentausch universell bestimmten und durchdrungenen Gesellschaft erscheinen die menschliche Arbeit und ihre Produkte, unter Abstraktion ihres eigentlichen Gebrauchswerts, im Lichte ihrer Warenförmigkeit und ihres Tauschwerts. Obgleich Warenförmigkeit und damit der Tauschwert vom Menschen geschaffen sind, erscheinen sie als etwas von ihm unabhängig Existierendes, weil er sich durch die marktförmige Strukturierung der Gesellschaft auf das bürgerliche Subjekt zurückwirkt. Damit erhält der Tauschwert den Charakter einer quasi-natürlichen, im individuellen Willen der einzelnen Subjekte unabhängigen Entität. Er ist verdinglicht (Vgl. Marx 1867/2009). U.a. Lukács bezeichnete diesen Zusammenhang als zweite Natur und verwies darauf, dass sich mit fortschreiten der kapitalistischer Entwicklung „[…] die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewußtsein der Menschen hinein[…]“ (Lukács 1923, S.105, 109) senken würde. Ein Prozess, den Adorno schließlich als das korrespondierende Gegenstück zur wachsenden technischen Zusammensetzung des Kapitals bezeichnete: „Es wächst die organische Zusammensetzung des Menschen an. Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital“ (Adorno 1951/2003, S.261, 262). Sukzessive manifestiert sich also, durch kontinuierliche Sozialisierung und Internalisierung, der Typus des verdinglichten Bewußtseins (vgl. u.a. Adorno 1971, S.97 ff.), dessen Neigung zur Naturalisierung sozialer Verhältnisse sich nicht länger auf den Bereich der Arbeit beschränkt.

„Uns alle“? – Die Verdinglichung nationaler Kollektivität

Das Denken jenes verdinglichten Bewusstseins erstreckt sich im gegenwärtigen Mediendiskurs um Migration vielmehr auch auf einen verdinglichten Umgang mit nationaler Kollektividentität. Beispielhaft dafür ist u.a. der Artikel Der Mob hat uns alle missbraucht, veröffentlicht am 07.01.2016 in der Welt. Er reagiert auf die Übergriffe sexueller Gewalt während der letztjährigen Silvesternacht in Köln. Dabei sollte bereits das im Titel enthaltene „uns”, als dessen Teil der Autor sich zu begreifen scheint, stutzig machen. Als nicht weiter hinterfragtes und hinter-fragbares Konstrukt, wird dieses „uns” durch Text und Subtext des gesamten Artikels getragen, sowie gegenüber einem imaginierten „die Anderen” abgegrenzt.

Das „uns” erscheint dabei als ein Deutsches ohne Migrationshintergrund. Dieses ethnisch definierte Nationalkollektiv, das „bisher für die Flüchtlinge eintrat, sieht durch die Übergriffe von Köln seinen guten Willen geschändet.“ Es fühlt sich „angegriffen, verhärtet, verhöhnt“, „missbraucht“ und „vergewaltigt“. Emotionalisiert wie es deswegen ist, will es „Vergeltung und Strafe“, und fordert: „Schiebt ab, haut ab, ob ihr drei Jahre hier lebt oder drei Wochen.“ Dabei konstruiert der Autor einen „von den Tätern gesäte[n] Generalverdacht gegen jeden jungen Mann mit Migrationshintergrund“. Er kommt, in seinem verdinglichten Verständnis von der zwangsläufigen Zugehörigkeit aller Menschen zu nationalen Kollektividentitäten, gar nicht auf die Idee, diesen eigenen offenkundigen Rassismus dafür verantwortlich zu machen, sondern externalisiert die Schuld auf die Fremdgruppe mit Migrationshintergrund, welche „in lärmend selbstbewussten Gruppen“ auftrete und von nun an mit „Widerwillen“ zu betrachten sei. [2]

„Horden nordafrikanischer und arabischer Männer“? Die kulturalistisch-rassistische Verdinglichung von Geschlecht

Ebenso erstreckt sich das Denken des verdinglichten Bewusstseins innerhalb des gegenwärtigen Migrationsdiskurses auf einen naturalisierenden Umgang mit Geschlecht. [3] Dies wird in besonderer Weise virulent, wenn sich die Teildiskurse um Geschlechteridentität und um nationale, ethnische bzw. kulturelle Identität miteinander verbinden. Hinsichtlich der Artikulation von biologistischem Rassismus herrschen mittlerweile enge Diskursregeln. [4]
Infolgedessen etabliert sich jedoch sukzessive eine Argumentationsstrategie, die vermeintliche Charakterunterschiede zwischen ethnischen Gruppen über deren jeweiliges Sozialisationssetting zu erklären versucht, sprich, sie kulturalisiert. [5] Es lohnt sich, diese Entwicklung im Hinblick auf die Zuschreibung geschlechtsspezifischer Charakteristika an nichtweiß-arabischen bzw. (nord-)afrikanischen Männern genauer zu betrachten. So wird z.B. „ein hohes Maß an Aggressivität und Machismo“, „Gewalt und Frauenverachtung“, Homophobie und Antisemitismus assoziativ mit „manchen Migranten-Communitys“ verknüpft. Auf diesem Wege wird impliziert, dass jene, v.a. den Männern zugeschriebene, Charakteristika in kausalem Zusammenhang mit deren spezifischem Sozialisationssetting stünden. Jeder Mensch ist Produkt seiner sozialen Umwelt, könnte man dem zustimmend sagen. Wenn man sich nicht gleichzeitig fragen würde, warum das soziokulturelle Umfeld für gewöhnlich im Kontext von aggressiv-sexistischem oder antisemitischem Verhalten nichtmigrantisierter Deutscher keine Rolle zu spielen scheint. Ein weiteres Phänomen ist die ebenfalls über Kultur begründete Darstellung arabischer und afrikanischer Männer als triebgesteuert, enthemmt, wild und die zivilisatorischen Regeln missachtend. Die Rede von „Horden junger Männer […] wohl nordafrikanischer oder arabischer Herkunft“, welche auf „Frauenjagd“ gehen, passt in dieses Bild. [6]

Hinsichtlich dieser kulturalistisch-rassistischen, verdinglichten Wahrnehmung von Geschlecht tut sich ein sehr interessanter Aspekt auf. Das verdinglichte Bewusstsein scheint hier das soziokulturelle Geworden-Sein, z.B. eines arabischen Mannes und seiner Charakterstruktur, durchaus in Rechnung zu stellen. Gleichzeitig wird jedoch, ganz im Sinne des verdinglichten Denkens, dessen Sozialisationssetting als absolut und unveränderlich gesetzt. Mit anderen Worten: Der Verdinglichungskontext wechselt gewissermaßen von der Ethnizität zur Kultur. Die verdinglichte Vorstellung vom Menschen mit quasi-natürlichen geschlechts- und ethnizitätsspezifischen Charaktereigenschaften bleibt jedoch bestehen.

Und nun?

„Die Gesellschaft ist integral, schon ehe sie totalitär regiert wird. Ihre Organisation umgreift noch die, welche sie befehden, und normt ihr Bewußtsein.“
Adorno 1951/2003, S.235

Es sollte betont werden, dass die Verdinglichungskritik selbst nicht außerhalb der Verdinglichung existiert. Seit jeher steht sie u.a. deswegen vor dem Problem, Perspektiven der Veränderung aus den eigenen Erkenntnissen abzuleiten. Was kann also getan werden mit den angedeuteten Erkenntnissen hinsichtlich der Aktualität des verdinglichten Bewusstseins und dessen Wirkmächtigkeit im Diskurs um Migration? Wie im Eingangszitat bereits herausgestellt, handelt es sich beim verdinglichten Bewusstsein auch um einen präreflexiven Unbewusstseinszustand, als dessen Folge die geschilderten Tendenzen zur Naturalisierung sozialer Verhältnisse zu verstehen sind. Dem Denken innerhalb des Diskurses um Migration sind dadurch enge Grenzen gesetzt. Allen voran selbst-reflexive Bewusstmachung kann meines Erachtens nur auf deren progressive Überwindung hinwirken. In die Diskurse um Migration, Nationalität, Geschlecht und Kultur wäre in einem Sinne einzugreifen, der das Geworden-Sein und damit die Veränderbarkeit all dieser sozialen Kategorien betont. Sollte dies fruchtbar gelingen, wäre möglicherweise angesichts der gegenwärtigen humanitären Krisen im Kontext der Migrationsbewegungen „[…] doch einiges gewonnen“ (Adorno 1971, S.91).

Christian Vogt

Fußnoten:

1: Ebenso werden die aktuellen Migrationsbewegungen mit Naturkatastrophen wie Lawinen und Hochwasser verglichen (vgl. u.a.: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wolfgang-schaeuble-zu-fluechtlingen-die-lawinen-entgleisung-kommentar-a-1062402.html sowie: http://www.spiegel.de/politik/ausland/tschechien-minister-vergleicht-fluechtlinge-mit-hochwasser-a-1071796.html , Stand jeweils: 04.05.2016).

2: Alle Zitate: http://www.welt.de/debatte/kolumnen/made-in-germany/article150742666/Der-Mob-hat-uns-alle-missbraucht.html , Stand: 04.05.2016

3: Hier zeichnen sich mindestens drei beachtenswerte Kategorisierungen jeweils unterschiedlicher Zuschreibungen von geschlechtsspezifischen Charakteristika ab: 1. Die weiß-deutsche Frau. 2. Der weiß-deutsche Mann. 3. Der nichtweiß-arabische bzw. (nord-)afrikanische Mann. Alle drei Typen funktionieren dabei i.d.R. über ein verdinglichtes Verständnis von Geschlecht. Sie alle zu untersuchen sprengt jedoch den Rahmen dieses Essays. Hier soll insbesondere der 3. Typus von Interesse sein.

4: Damit ist dieser Stelle gemeint, dass die Artikulation biologistisch-rassistischer Stereotype Gefahr läuft, sozial und juristisch sanktioniert zu werden.

5: Unter Sozialisationssetting kann hier die soziale, ökonomische und kulturelle Struktur als sozialisierende Instanz verstanden werden.

6: Alle Zitate: http://www.zeit.de/2016/02/koeln-silvester-sexuelle-uebergriffe-fluechtlingspolitik, Stand: 04.05.2016

Literatur:

  • Adorno, Theodor W., 1951/2003: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M.
  • Adorno, Theodor W., 1971: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M.
  • Lukács, Georg, 1923: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, in: Ders. 1923: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin
  • Marx, Karl, 1867/2009: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1, Köln.

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