Besserwissen. Ja bitte, fangen wir an!

Wie ist es um das kulturelle Gedächtnis Österreichs und der Universität Wien, einem der „Orte der Wissensproduktion“ der Gesellschaft bezüglich NS-Vergangenheit, Opfermythos und Mittäter*innenschaft, bestellt? Es sind immer noch ein verzerrtes Selbstbild, ein Leugnen der Mitschuld und Mittäter*innenschaft und bis heute NS-Kontinuitäten – ein Postnazismus erkennbar.

Der Begriff des Kulturellen Gedächtnisses nach dem Soziologen Halbwachs und den Wissenschaftler*innen Aleida und Jan Assmann ist ein Sammelbegriff. Die Grundlage für Handlungen einer Gesellschaft setzt sich aus „generationsübergreifendem Wissen“ zusammen und bewahrt den Wissensvorrat einer Gruppe auf, woraus sich ihr Selbstbild zusammensetzt. Erwerb und Überlieferungen dienen u.a. der Identitätsstiftung.
Kulturelle Objektivierung, sprich, kulturelle Artefakte, stabilisieren das Kulturelle Gedächtnis (vgl.: Assmann 1988; 15 ff.).

Jene „kollektive“, z.B. nationale Vergangenheit wird in der Gegenwart je nach Gebrauchswert präsent, die Vergangenheit wird also selektiv, dem gegenwärtigen Bezugsrahmen und aktuellen gesellschaftlichen Situationen gemäß genutzt.

Dieser kulturelle Wissens- und Symbolvorrat wird folglich nach Wertperspektive und Relevanzgefälle strukturiert, je nachdem, was die Selbstbildkonstruktion benötigt. Nach Halbwachs ist das Gedächtnis des Individuums geprägt über soziale Vermittlung und Gruppenzugehörigkeit (vgl.: ebd.: 15 ff.).

Österreich und der Opfermythos

Die Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943 lieferte wohl den Grundstein zur Einführung einer Opfer- statt Täter*innenr-Selbstidentifikation Österreichs nach Ende des 2. Weltkrieges. In ihr heißt es von GB, U.S.A. und SU unter anderem:

The governments of the United Kingdom, the Soviet Union and the United States of America are agreed that Austria, the first free country to fall a victim to Hitlerite aggression, shall be liberated from German domination.
[…] (Moskauer Erklärung)

Diese und andere Feststellungen der Moskauer Erklärung stützen zu großen Teilen den Opfermythos Österreichs[1]. Die Selbstverortung als Opfer wurde instrumentalisiert und genutzt (z.B. bei Verhandlungen
mit den Siegermächten) und hatte weitreichende Wirkung bezüglich Einsparungen bei fälligen Entschädigungszahlungen an Opfer österreichischer Rassenpolitik im nationalsozialistischen Staat (vgl.: Blimlinger 2006: 137ff.).

In der Unabhängigkeitserklärung der provisorischen Regierung vom 27.04.1945 heißt es u.a., der Anschluss sei durch „militärische Bedrohung von außen […] und dem Terror einer nazifaschistischen Minderheit […] dem macht- und willenlos gemachten Volk Österreichs“ gegen den eigenen Willen aufgezwungen worden (zit. nach: www.Shoa.de).

Die Selbstverortung weist einige Gedächtnislücken auf. Von einer nazistischen Minderheit kann in Anbetracht weit verbreiteter und etablierter antisemitischer, faschistoider und rassistischer Weltanschauungen in Österreich bereits vor 1938 nicht die Rede sein. Auch die Uni Wien kann auf eine lange Liste rassistischer und antisemitischer Mitarbeiter*innen und Aktionen vor dem Bestehen des „Dritten Reichs“ zurückblicken.

NS-Kontinuitäten – die Uni Wien während und nach der NS-Diktatur

Die NS-Ideologie traf also auch in der Universität keineswegs auf unberührten Boden, wie es die provisorische Regierung der 2. Republik gern attestiert gehabt hätte. Schon vor 1933 gab es faschistoide Strukturen und Gruppierungen, die den Anschluss an das „Deutsche Reich“ mit einer Feierlichkeit vor dem Siegfriedskopf und gemeinschaftlichem Beschmieren und Beschädigen der Büsten vermeintlich jüdischer Wissenschaftler begrüßten.

Der Siegfrieskopf ist ein Denkmal, welches 1923 von antidemokratischen und antisemitischen Studenten den Helden des 1. Weltkriegs errichtet wurde. Er steht heute noch, nach langem Zerren endlich mit Hinweis, nicht mehr in der Universitätsaula, aber dennoch im Arkadenhof.

Jüdische Wissenschaftler*innen hatten bereits seit den 1920er Jahren wenige Chancen auf Karriere an der Uni Wien. Großflächige ideologische „Umorientierung“ vieler Wissenschaftler*innen der Uni Wien, mussten mit dem Anschluss nicht forciert werden (vgl.: Rupnow 2010: 79ff.).

Fritz Knoll, bereits im Jahr 1933 an die Uni Wien berufen und dem NSDAP Lehrerbund beigetreten, Vorstand des „Deutschen Clubs“, einem deutschnationalen Akademiker Forum, wurde 1938 von den Nazis in das Rektoratsamt gehoben.
Unter seiner Führung waren schon bis zum 23. April 1938 252 Mitarbeiter*innen aus der Uni Wien „entfernt“ (vgl.: Standard 2013).

Viktor Christian, während des Krieges Dekan der Geisteswissenschaften, Zeitlang Mitglied in der schlagenden Burschenschaft „Teutonia“, illegales Mitglied der NSDAP und des SS-Ahnenerbes (vgl. : Leitner : 1ff), wurde 1950 mit Hilfe von Kollegen in den Ruhestand entlassen, aufgrund der Berücksichtigung seiner „Menschlichkeit“ während seiner Amtszeit. Zurückzuführen ist dies u.a. auf sein Beharren auf seine Opfer- und Beschützerrolle.

Auch Kurt Schubert, freundschaftlich verbundener Schüler seines Förderers Christians, setzte sich für ihn mit einem Schreiben an den Bundesminister für Unterricht ein. Er deklarierte z.B. Christian Raub jüdischer Privatbibliotheken und deren Einverleibung in die Institutsbibliothek als „Rettung vor Zerstörung und Aufbewahrung“ und behauptete, Christian, welcher gern auch Skelettuntersuchung und Exhumierung jüdischer Leichen auf dem Währinger Friedhof in Auftrag gab, hätte die Leichenschändung auf dem jüdischen Mattersburger Friedhof vereitelt. Hintergrund Christians Wirken war es, aufgrund der bevölkerungspolitschen Relevanz antisemitische, rassistisch grundierte „Judenforschung“ zu betreiben (vgl.: Rupnow 2010: 79ff.). Bemerkenswert ist, dass Schubert, der übrigens auch die Katalogiesierung der geraubten Bibliotheken vornahm, ab 1966 als ordentlicher Professor am Institut für Judaistik unterrichtete und es geschafft hat, als ein Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus geehrt zu werden. Ihm kam eine wichtige Rolle als Sprecher und Erzähler in der Nachkriegszeit zu. Auf der Universitätshomepage der Judaistik steht geschrieben: „In Wien gab es dank Kurt Schubert erste Anfänge der Judaistik ab 1945, ein Ordinariat und Institut ab 1966“ weiterführender Link zu Schubert führt zu seinem Nachruf, in dem ihm seiner ehrenhaften Verdienste erinnert wird (univie.ac.at: Judaistik).

Nobelpreisträger mit Vergangenheit

Die Uni Wien huldigt u.a. Konrad Lorenz. Er war fleißiger Mitarbeiter des rassenpolitischen Amts der NSDAP , meinte, „Minderwertige müss[t]en ausgemerzt werden“ und war eigener Aussage nach „[…]natürlich immer Nationalsozialist“ (zit. nach ORF). Auf sein rassistisches Gedankengut und seine Funktion im „Dritten Reich“ wird in dem Infotext der Uni Wien nicht explizit verwiesen, ein aufgeführter Link zur „Diskussion über seine Involvierung in den Nationalsozialismus“ (Univie.ac.at: Nobelpreisträger) führt ins Nichts bzw. ist „not found“.
Das Institut für vergleichende Verhaltensforschung der veterinärmedizinischen Universität Wien trägt außerdem den Namen dieses Nazis (vgl.: vetmeduni.ac.at).

Das Institut für Theaterwissenschaften befindet sich bis heute in der Hofburg, in der es nach der Gründung 1943 neben acht weiteren Institutsneugründungen, unter den NSDAP Mitgliedern Heinz Kindermann und Margret Dietrich, von Reichsstatthalter Baldur von Schirach Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt bekam. Kindermann konnte seine Universitätskarriere ab 1954 als Lehrkraft und bis 1966 als Institutsleiter weiterführen. Von 1966 bis bis 1983 leitete dann Dietrich das Institut (vgl.: Thewi 2009: 10).

Was bedeutet es also für die kollektive Identität und das Selbstbild, wenn das kollektive Gedächtnis in einem Mittäter*innenland auf Opferrolle, Aufarbeitungsabneigung und Mut zur Lücke basiert? In Anbetracht der Geschichtsverkehrung und -vergessenheit kann nicht von einem Bruch mit dem Faschismus die Rede sein, er hat sich vielmehr in „demokratische“ Strukturen eingegliedert.

Bis in die 1980er Jahre hinein prangte an der Universität für Bodenkultur ein Zitat aus „Mein Kampf“, die Adresse des Hauptgebäudes der Uni Wien war bis 2012 der Dr.-Karl-Lueger-Ring, benannt nach Wiens Bürgermeister bis 1910, einem, von Hitler hoch geehrten Antisemiten und Hetzredner. Alljährlich zum 8. Mai trauern neonazistische Burschenschaften zusammen mit der FPÖ und anderen Rechtsextremen um die Gefallenen, die „Helden“ des 2. Weltkriegs oder veranstalten Europas größtes Vernetzungstreffen der Rechten, den „Akademikerball“, in der Hofburg, einem repräsentativen Gebäude des Landes.

Das Weglassen der Vergangenheit

Auch an der Universität Wien hat keine Entnazifizierung stattgefunden, bis heute besteht wenig Interesse daran, auf NS-Kontinuitäten in angemessener Weise
hinzuweisen. Darüber hinaus haben Nazis noch immer einen festen Platz im universitären Gedächtnis: in den offziellen Ehrungen und dazugehörigen Ausstellungen, in Bildern, Namensgebungen von Instituten, Darstellungen in Form von Büsten etc. In einigen Fällen wird nicht einmal versucht etwas an den Fakten zu beschönigen, sie werden einfach verdreht und es wird sehr oft nicht erwähnt, dass es Kontroversen oder Hinweise auf eine Nazivergangenheit einiger Personen gibt.

Nicht Benennen, Weglassen und Umschreiben bedeutet Verbreiten von Unwahrheiten.

Was bewirkt dieser Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit bezüglich der Funktionen des kulturellen Gedächtnisses, mit welchem sich die Identität einer Gruppe konstituiert und welches das Handeln und Erleben einer Gesellschaft steuert? Was kommuniziert die Universität Wien also mit diesem Unwillen zur Aufarbeitung nach Außen? Auf welche gesellschaftlichen Kontexte und Situationen wird hier hin-selektiert? Welcher Art ist ihr Selbstbild demnach und was verursacht dies bei Adressat*innen zB. bezüglich der Zugehörigkeit zur „Gruppe der Studierenden“? Was wird „sozial vermittelt“? Welcher Umgang ist mit rechtsextremer Studentenverbindungen zu erwarten? Welche Gesinnungsanhänger*innen unterrichten an der Uni Wien heute?

„Besserwissen“ bezüglich der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit an der Universität Wien basiert auf besser – und scheinbar selbst – informieren und das sollte doch an einer wissenschaftlichen Einrichtung schon längst und spätestens ab jetzt aus sich selbst heraus in einem umfangreichen Rahmen passieren.

Julia G.

1: vgl.: www.Shoa.de [Zugriff 12.03.2014]

Literatur:

  • Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan; Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt: Suhrkamp. S. 9-19
  • Blimlinger, Eva (2006): Die Republik Österreich. Keine Täter nur Opfer. In: Kramer, Helmut, Karin Lienhart Karin; Stadler Fritz:Österreichische Nation‐Kultur-Exil und Widerstand. Berlin, Wien: Lit Verlag. S. 137-147.
  • Judaistik Uni Wien: http://www.univie.ac.at/Judaistik/
  • Leitner, Irene Maria (k.A.): Bis an die Grenzen des Möglichen: Der Dekan Wiktor Christian und seine Handlungsspielräume an der Philosophischen Fakultät 1938-1943. http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/ash/Texte_fuer_Lehrveranstaltungen/Leitner_ViktorChristian.pdf [Zugriff: 11-03.2014]
  • Moskauer Erklärung: Bundeskanzleramt. Dokument: http://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Dokumentnummer=NOR11000205
  • Nobelpreisträger Uni Wien: http://www.univie.ac.at/universitaet/forum-zeitgeschichte/gedenkkultur/nobelpreistraeger/#c1539)
  • ORF: http://sciencev1.orf.at/science/news/27585 [Zugriff 02.03.2014]
  • Rupnow, Dirk (2010): Brüche und Kontinuitäten – von der NS-Judenforschung zur Nachkriegsjudaistik. In: Ash, Mitchel G.; Nieß, Wolfram, Pils Ramon (Hg.): Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien. Veröffentlicht in Vienna University Press. Göttingen: V&R unipress. S. 79-110
  • Shoa.de: http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/nachkriegsdeutschland/schulddebatte/2611-oesterreich-die-moskauer-erklaerung-und-der-opfermythos-.html?q=%C3%B6sterreich [Zugriff 02.03.2014]
  • Standard 01.03.2013: http://derstandard.at/1362107200728/Die-zwei-Karrieren-des-Fritz-Knoll [Zugriff 02.03.2014]
  • Thewi Reader (2009): http://thewi.at/sites/default/files/readerpostnazismus.pdf
  • Veterinärmedizinische Universität. Institut für vergleichende Verhaltensforschung: http://www.vetmeduni.ac.at/de/klivv/ [Zugriff: 04.03.2014]

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