Rrose Sélavy alias Marcel Duchamp

Travestie als künstlerische Praxis

Der Name Rrose Sélavy wurde von vielen KunsthistorikerInnen mehrfach interpretiert. Rrose Sélavy ist nicht nur ein französisches Wortspiel – Éros, c’est la vie = Eros ist das Leben – sondern Rose ist auch Teil von vielen jüdischen Namen wie Rosenberg und Rosenthal. Es ist aber auch eine eindeutige geschlechtskonnotierte Farbe. Rosa für die Mädchen, Hellblau für die Buben. Und betont man das doppelte „r“ nicht, wird aus dem Namen: Rosa ist das Leben.

Für Marcel Duchamp, so der bürgerliche Name, sind Selbstinszenierungen, Subjektinventionen und Interventionen sowohl eine Facette seiner Kunst, als auch Teil seines Lebens gewesen – zwei Bereiche, die bei ihm ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen.1 Sein Umfeld bietet ihm die dafür nötige Freiheit: Er war aus bürgerlichem Hause, finanziell immer abgesichert und ohne Schaffenszwang.
Duchamp sagt dazu: „[…] die Familie zwingt Sie zur Aufgabe ihrer eigenen Ideen und Vorstellungen, zwingt Sie, diese gegen die von ihr und der ganzen Gesellschaft und dem ganzen Apparat akzeptierten Normen einzutauschen.“2 Duchamp wandte sich also sowohl im Leben als auch in der Kunst gegen jede Art gesellschaftlicher Zwänge und Normen, auch gegen die tradierte Vorstellung von Sexualität.3 Arturo Schwarz beschreibt seinen Lebensstil als „unrestricted and unrestrictive lifestyle, a manner of living determined by his awareness of the servitude that social obligations impose on the individual. Duchamp’s all-encompassing defiance of these obligations was directed against pre-established categories, whether on the practical or the semantic plane.“4 Eine hier interessante Trennung gab es dennoch zwischen Kunst und Leben: Die fiktive Person Rrose Sélavy trat als Photographie, Autorin und Co-Autorin oder Urheberin auf, niemals jedoch in der Öffentlichkeit, als Performance.

Körper + Zeichen = Identität

1921 gibt Duchamp der Autorfigur Rrose Sélavy einen Körper – seinen Körper. Die Abbildung zeigt Marcel Duchamp als Rrose Sélavy, deren Name bisher nur als Signatur auf Werken auftauchte und die hier selbst zum Gegenstand eines Kunstwerks wird. Zu einer Autogrammkarte, die mit „Rrose Sélavy alias Marcel Duchamp signiert ist. Eine Autogrammkarte weist auf einen gemeinsamen Moment mit der Person, die signiert hat, hin; sie verkörpert diesen in Form einer Karte, die man besitzen kann. Dies wird von Duchamp durch die Inszenierung ironisch konterkariert, womit er zum Ausdruck bringt, dass man ihn nicht als festgelegte (Künstler-)Identität besitzen kann.5 Der Fotograf Man Ray hat auch unterschrieben. Damit erweist Man Ray sich als Urheber des Fotos. Und Duchamp als Ursache des Moments oder als Verantwortlicher der Idee? Das hier verwendete „alias“ wird in einem späteren Beispiel, dem Titel seiner Retrospektive von 1963 durch „und/oder“ ersetzt. Dies verkompliziert nicht nur die Identitätsfrage, sondern verschärft auch die Geschlechterfrage. Es ist nicht mehr Mann oder Frau sondern beides gleichzeitig.

Was steht dahinter, wenn sich ein junger, attraktiver, weißer, bürgerlicher Mann 1920 in eine etwas ältere, unattraktive, melancholische Frau verwandelt? Duchamp wollte bewusst auf eine im patriarchalen System schwächer gestellte Position als die Seine umsteigen. Der erfolgreiche Mann identifiziert sich mit einer Minderheit: „[…] ich wollte meine Identität wechseln und hatte zuerst die Idee, einen jüdischen Namen anzunehmen. Ich war ja katholisch, und dieser Religionswechsel alleine bedeutete schon eine Veränderung. Ich fand aber keinen jüdischen Namen, der mir gefiel oder der mich irgendwie reizte, und da kam mir plötzlich die Idee: warum sollte ich eigentlich nicht mein Geschlecht wechseln? Das war doch viel einfacher!“6

Aus diesem Statement lässt sich Duchamps Konzeption von Identität recht eindeutig herauslesen. Ob Überzeugungen wie Religion oder physische Merkmale wie Geschlecht, alles ist konstruiert und überwindbar, die Identität wird zum gesellschaftlichen Konstrukt. Sein Kunstgriff bietet eine Möglichkeit der Identitätsgestaltung über Grenzen der traditionellen Rollenverteilung und des heteronormenGeschlechterverständnisses hinweg. Die Inszenierung, um auf seine Strategien zur Dekonstruktion von Autorschaft zurückzukommen, kritisiert aber auch die allgemein gültigen Vorstellungen seiner Zeit:
Das Bild vom Künstlers als männliches, autonomes Genie und die Opposition zwischen männlichem Künstler/Subjekt und weiblichem Modell/Objekt. Diese Inszenierung und ihre Wirkungen waren nur dank vieler Umstände möglich: „Als selbstsicherer Mann konnte sich Duchamp über sich lustig machen, er konnte hässlich sein, zwielichtig, er konnte die Spießer irritieren und verärgern. Aber das konnte er sich auch deshalb erlauben, weil ihm der Weg zurück immer offen blieb und er als Künstler Narrenfreiheit genoss.“7 Rrose Sélavy trat nie in die Öffentlichkeit. Sie existierte rein als Kunstgriff, Kunstwerk und Werkzeug zur Dekonstruktion kunstwissenschaftlicher, alltäglicher und traditioneller Normen.

Mit kritischem Blick könnte die Radikalität der Geste angezweifelt werden. Amelia Jones argumentiert, dass die Autorfigur der Rrose Sélavy vor allem durch ihr weiterreichen an Man Ray (ESORROSE SEL À VIE, 1922) und Francis Picabia (Portrait of Rrose Sélavy, 1924) an Glaubwürdigkeit verliert und im freud’schen Sinne zu einem Behälter wurde. Auch verweist sie diesbezüglich auf die amerikanische Travestie-Komödie Tootsie, in der die begehrteste Frau von einem Mann gespielt wird.2
Fest steht, Duchamp entwirft ein neues Künstlerbild, indem er sich der traditionellen Vorstellungen bedient wie der Farbtuben beim Malen. Duchamps widersprüchliche Person könnte man also in seinem eigenen Statement am besten zusammenfassen und sich als Merksatz an die Pinnwand heften: „I don’t want to be pinned down to any position. My position is the lack of position […].” 9

Victoria Dejaco

1 „Ich lebe lieber, atme lieber, als daß ich arbeite. Und da ich nicht glaube, daß die von mir geleistete Arbeit in der Zunkuft für die Gesellschaft irgendwie von Bedeutung sein wird, habe ich, wenn Sie so wollen, beschlossen, mein Leben zu meiner Kunst zu machen – und die Kunst zu leben zu praktizieren.“ Duchamp zu Pierre Cabanne in: Cabanne 1972, S. 108/109.

2 ebd., S. 116.

3 Siehe Bourdieu 1987, Invention of the artist’s life.

4 Schwarz 1992, S. 73.

5 Menches 2008, S.14.

6 Cabanne 1972, S. 96.

7 Friedrich 2006, S. 98.

8 Jones 1994, S. 150-155.

9 Duchamp 1969, zitiert nach Jones 1994, S. 105.

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